Gottes-/Christusmörder
Die Juden haben den Jesus umgebracht und deswegen hat Gott den Antisemitismus erfunden. Klingt nicht sehr barmherzig? Wer die Erzählung vom jüdischen Gottesmord tatsächlich in die Welt gebracht hat und wie sie sich in den letzten 2.000 Jahren gewandelt und verschiedenen politischen Absichten angepasst hat, erzählen wir hier.
Fakten
- Entstanden nicht direkt nach dem Tod Jesu, sondern über 100 Jahre später
- Diente als Abgrenzung des Christentums als neuer Religion zum Judentum
- Fand in den großen christlichen Kirchen lange Anklang, diese distanzierten sich erst nach 1945 deutlich davon
- Findet sich noch heute in manchen orthodoxen Kirchen und zahlreichen Passionsspielen
- Häufig als Chiffre verwendet, um Juden als Feinde zu markieren, die bspw. mit dem Teufel im Bunde seien
Erst als aus missionarischen und politischen Gründen ein eigener Charakter des Christentums wichtig wurde, entstand die Legende von der jüdischen Schuld an Jesu Tod – erst etwa im zweiten Jahrhundert danach. Die Gründe dafür haben aber wenig mit den tatsächlichen Abläufen um die Kreuzigung zu tun.
Jesu Wirken könnte auch als eine innerjüdische Reform- oder Protestbewegung beschrieben werden. Diskussionen über theologische Fragen und religiöse Praxis waren zu seiner Zeit Gäng und Gäbe. Sein Tod war von den Absichten der militärischen Kolonialmacht Rom ebenso beeinflusst wie von Selbsterhaltungsinteressen der jüdischen Vertretung – und vermutlich noch einigen Faktoren mehr. Die Deutung als Märtyrer, der von den „verstockten“, von ihrer Religion nicht abweichenden Juden den Römern zum Mord ausgeliefert wird, ist eine nachträgliche, die klare politische Interessen bediente.
Vor 2000 Jahren…
Die römische Niederschlagung verschiedener jüdischer Aufstände gegen Fremdbestimmung und Drangsalierung in der Provinz Judäa hatte in mehreren Wellen zur Zerstörung des Tempels und vieler religiöser Schriften, zum Tod hunderttausender Jüdinnen und Juden, zu Enteignung und Vertreibung sowie zur großflächigen Zerstörung von Siedlungen und Infrastruktur geführt. Rom benannte die Provinz von Judäa in Syria Palaestina um, womit der jüdische Charakter zugunsten einer rein geografischen Bezeichnung begrifflich ausgelöscht werden sollte. Ab etwa 140 nach Christus war das jüdische Leben in Judäa weitgehend in die Diaspora gezwungen.
Diese Situation wurde von christlicher Seite nicht durch die vorangegangenen Konflikte und die militärische Übermacht Roms erklärt, sondern mit der Eigenart und dem Verschulden der Juden selbst. Ihre Weigerung, Jesus als den Messias anzuerkennen, hätte nämlich Gottes Zorn und Strafe über sie gebracht. Hier findet sich der Vorläufer der Substitutionstheologie, wonach die christliche Kirche das Volk Israel als auserwähltes Volk „ersetzt“ habe – wer diese Deutung nicht annimmt, stellt sich also implizit gegen Gott. Wer steht noch gegen Gott? Genau, Satan. Das Johannesevangelium (vermutlich ca. 100 n. Chr.) spricht daher auch von den jüdisch bleibenden Juden als „Satanssynagoge“.
Haltbare Hasslegende
Die Gottesmordlegende legte also das Fundament für den christlichen Antijudaismus, der durch Religion, Kultur und Alltagspraxis zu einem „kulturellen Code“ der (christlichen) europäischen Gesellschaften wurde. Aus dem christlichen Konkurrenzverhältnis entwickelten sich in den folgenden Jahrhunderten Feindschaft und Verfolgung, beispielsweise in der Form von Zwangstaufen, Pogromen und der Reconquista.
Holocaust? In Gottes Namen!
Die Legende stellt eine Legitimation antijüdischer und antisemitischer Aggression dar: wenn Juden das Höchste, Allerheiligste auf Erden ermorden (lassen) konnten, haben sie (auf hinterhältige Art erlangte) immense zerstörerische und böse Macht – sind gefährlich und über- oder unmenschlich, satanisch etc. und müssen von allen rechtschaffenen Menschen bekämpft werden. Dieser Deutung folgte beispielsweise die katholische Kirche unter Papst Pius XII, der 1942, im Wissen von der nationalsozialistischen Vernichtung der europäischen Juden, die „Schuld“ und den „Gottesmord“ Jerusalems in seiner Weihnachtsansprache an die Kardinäle anführte[1].
Gottesmord, Götzendienst, Globalisten
Heute taucht die Gottesmordlegende häufig in etwas abstrahierter Form auf und beschuldigt die Juden – wahlweise als Jünger Satans, „Soros-Jünger“, „Mammondiener“, Globalisten etc. bezeichnet – des „Mordes“ an Religion insgesamt. Gesellschaftliche Entwicklungen, die in vielen Erdteilen zu einem Bedeutungsverlust religiöser Institutionen oder einem Aufbegehren gegen theokratische Regime führen, werden so mit dem angeblichen dunklen, satanischen Wirken der Juden erklärt.
[1] https://www.vatican.va/content/pius-xii/it/speeches/1942/documents/hf_p-xii_spe_19421224_vigilia-natale.html