Zersetzer, Unterwanderer, Grenzüberschreiter
Wie wir aus der Legende der angeblichen Heimat- und Wurzellosigkeit der Juden wissen, werden sie wie keine andere Gruppe auf der Welt mit dem Überschreiten von Grenzen und dem Fehlen eines festen, „verwurzelten“ Ortes in Verbindung gebracht. Heimatlosigkeit, Wurzellosigkeit, Illoyalität, „Globalismus“, aber auch eine erstmal positiv bewertete „weltweite Vernetztheit“ wird niemandem sonst so hartnäckig bestätigt wie den Juden. Bei Erzählungen, die sie als Zersetzer, Unterwanderer und Grenzüberschreiter zeichnen, spielen allerdings nicht nur völkische und territoriale Grenzen und Räume eine Rolle – der Mythos befasst sich mit noch komplexeren und abstrakteren Bereichen und Trennlinien.
Fakten
- Das Bild von "den Juden" als Zersetzer und Unterwanderer ist eine alte antisemitische Personifikation
- Gesellschaftliche Entwicklungen und Konflikte werden einem persönlichen, jüdischen Wirken erklärt
- Juden und Jüdinnen wird zugeschrieben, von der Störung der Ordnung und der Auflösung bestehender Kategorien und Grenzen zu profitieren
Juden und Jüdinnen werden nicht nur mit der Störung bestimmter Kategorien assoziiert, sondern mit Unordnung und Zersetzung insgesamt. Da moderne demokratische Gesellschaften viel weniger strikte Begrenzungen und Kategorien kennen als frühere Ordnungen, gibt es eine Vielzahl an Ansatzpunkten für diesen Verschwörungsmythos.
In fast allen – persönlichen wie politischen – Bereichen finden Diejenigen, die es darauf anlegen, zersetzerische Mächte am Werk, die die gute Ordnung stören und sich über Grenzen hinwegsetzen, die jene akzeptieren (müssen). Diese Mächte werden quer durch die Geschichte mit antisemitischen Vorstellungen von Jüdischkeit assoziiert.
Körper- und Geschlechtergrenzen
Anschauliche Beispiele finden sich bei der Sicht auf Körper und Geschlecht. Gab es im ausgehenden 19. Jahrhundert die Rede von den angeblich „verweiblichten“ Juden und ihrem Pendant der herrischen und dominanten Jüdinnen, steuern die Juden heute durch Genderwahn und Frühsexualisierung den Niedergang der alten Geschlechterordnung, um uns alle zu einem form- und konturlosen Regenbogenbrei einzukochen. Durch Gendersternchen entmannte Europäer haben nämlich nicht mehr die Power, sich den arabischen, asiatischen und afrikanischen Invasoren entgegenzustellen, die dem Plan zur Neuordnung der Welt (NWO) zufolge millionenfach auf den Kontinent geschickt werden. So werden im Sinne des Großen Austauschs, Volkstods oder White Genocides die Widerstandkräfte der Einzelnen und der Völker gegen „Islamisierung“ wie auch gleichmacherische „globalistische“ Unterdrückung geschwächt. Das Bedrohungsszenario durch eine Auflösung von Geschlechtergrenzen war aber auch früher schon enorm wirksam: lüsterne, reiche und logischerweise auch körperlich vollkommen unarische Juden verführten nämlich mit ihrer finanziellen und politischen Macht die deutschen Frauen, was in der Folge natürlich den Fortbestand des ganzen Volkes bedrohte. Dem deutschen Mann blieb in dieser Logik nichts anderes übrig, als sich auf seine „natürliche“, rohe Brutalität und physisch-konkrete Gewalt zu verlassen. Die Vernichtung der europäischen Juden wurde auch so begründet.
Neue Ordnung von Macht und Ohnmacht
Die Zuschreibungen in Bezug auf Stärke und Macht folgen auch jenseits der Geschlechteridentität der Logik, Juden und Jüdinnen würden hier auf unheimliche Art Gegensätze in sich vereinen. So werden vermeintliche Verschwörer und Angehörige der mächtigen Eliten oft als körperlich schwach, krank und abstoßend, dabei aber beispielsweise durch politische oder finanzielle Macht potent und unsäglich mächtig dargestellt. George Soros muss hier immer wieder zur Illustration dieses schwach-mächtigen Feinbildes herhalten, das unter anderem auf die Annahme baut, dass „echte“ Stärke und Macht auch immer direkt sichtbar (z.B. durch viele deutsche Muskeln) und „natürlich“ (also beim Armdrücken und nicht an der Börse) sein müssen. Nur durch List, Verlockung und Verschwörung können solchen Ideologien zufolge also die natürlicherweise niederen und „unwerten“ Juden in Machtpositionen gelangen. Auch dies stellt eine regressive Reaktion auf gesellschaftliche Veränderungen dar, die ein „Recht des Stärkeren“ im rein physischen Sinne unterliefen und weitere Eigenschaften notwendig machten, um in eine Position der Stärke zu kommen. Gute Beziehungen, diplomatisches Geschick, „soft skills“ und natürlich auch Finanzkraft können körperlicher Fitness oder auch einer Armee überlegen sein. Demokratie und Rechtstaatlichkeit, zu deren Grundelementen der Minderheitenschutz zählt, stellen folglich für Menschen, die sich nach solch archaischeren Ordnungen sehnen, eine „Verweichlichung“ von Staat und Gemeinschaft dar, die nicht selten auch weiblich oder „unmännlich“ konnotiert wird.
„Rassen“grenzen, Regeln des Biotops Erde
Bilder von Aggressivität, Rohheit und Enthemmung, die im Kontext der Idee einer „Islamisierung Europas“ oder der Ersetzung der weißen Europäer:innen durch Migrant:innen und Geflüchtete im „Großen Austausch“ gemalt werden, folgen meist vor allem rassistischen Zuschreibungen. Die antisemitische Rahmung solcher Narrative überwindet die Trennung in innere (z.B. Politiker:innen, die auf dem Grundrecht auf Asyl beharren) und äußere Feinde (orientalische Horden, die vor den Toren der EU stehen) dadurch, dass am Ende eben alle Fäden bei den „Globalisten“, den „jüdischen Eliten“ zusammenlaufen. Sie vereinen in sich also auch diese Widersprüche und werden als für alles verantwortlich imaginiert. Das stellt nicht nur eine Überwindung – oder Unterwanderung – bis dahin gekannter Kategorien und Feindbilder dar, sondern auch eine spezifische Art der Feindschaft, die in ihrer Universalität dem antisemitischen Feindbild „Jude“ zum Verwechseln ähnlich ist. Das aktuell vor allem von neurechten gehypte Konzept des „Ethnopluralismus“, das in lang bewährter völkischer Art und Weise jedem Volk seinen Raum zuweist und es für einen seligen Zustand hält, wenn sich keines daraus hervortraut, ist ein gutes Beispiel: vordergründig versuchen sich die Vertreter:innen dieser Idee damit vom Rassismus freizusprechen, weil sie ja gar nichts gegen „andere Völker“ hätten – solange eben alle, die diesen zugeordnet werden, dort bleiben, wo sie artgemäß hingehören. Die Zuordnung zur Ethnie funktioniert aber nunmal nicht anders als rassistisch, die völkische Ordnung bleibt also angesichts moderner Staaten und Gesellschaften ein rechter Wunschtraum. Nichtsdestotrotz wird ein Ziel der Agitation häufig erreicht: die Spannungen, Reibungsflächen und Konfliktpunkte, die eine moderne, nicht auf völkischen Trennlinien beruhende Welt immer auch produziert, können bequem denjenigen in die Schuhe geschoben werden, die seit deren Beginn als Personifikationen dieser Moderne gelten: den Juden.
Grenzen der (natürlichen) Feindschaft
Nach einer Zeit, in der Konflikte meist als Kriege mit Nachbarn oder Überfälle durch Fremde vorgekommen waren, in denen sich jede Gemeinschaft selbst nach außen hatte verteidigen müssen, führte die Entwicklung zu Staatlichkeit und allgemeiner Gesellschaftlichkeit nicht nur zu einem gewissen Maß an Rechtszuverlässigkeit und persönlicher Individualität, sondern auch zu viel Verwirrung und Misstrauen. Die klare Trennung zwischen eigener Gruppe und den Fremden, die tendenziell Feinde waren, wurde auch im Zuge der Bildung einer internationalen Politik, also beispielsweise Handelsverträgen oder verbrieften Verteidigungsbündnissen, später auch supranationalen Gremien, zunehmend schwächer. Wenn die Bevölkerung nicht mehr nur absolut abhängige Verfügungsmasse eines Herrschers ist, spielen die Beziehungen in ihrem Inneren auf einmal eine wichtigere Rolle. Ein modernes Staatswesen und eine demokratische Gesellschaft müssen Konflikte gemeinschaftlich lösen – und oft genug auch aushalten können. Wer eine konflikt- und widerspruchsfreie, homogene Gesellschaft will, wie das beispielsweise den Nationalsozialisten vorschwebte, der muss alle Konflikte außerhalb dieser ansiedeln. Das Wirken böser Mächte ist dann die einfache Erklärung für gesellschaftliche Spaltungen und einander entgegenstehende Interessen.
NS: Störung der „natürlichen“ Ordnung durch die bloße jüdische Existenz
Der Kampf gegen die Moderne wurde von den Nationalsozialisten zum Staatsziel und Existenzgrund gemacht und konkretisierte sich im industriellen Massenmord an den Jüdinnen und Juden Europas. Dabei konnten sich die Vordenker der nationalsozialistischen Ideologie auf bestehende und weithin Zustimmung erntende Erzählungen über jüdische Unterwanderer und Zersetzer berufen. Ein Beispiel hierfür stellt die Debatte über die Gründe für die deutsche Niederlage im ersten Weltkrieg da, die als „Dolchstoßlegende“ erzählt wurde, um Selbstverschulden und Schwäche von sich zu weisen. Verantwortlich für die Niederlage seien nämlich die Feinde im Inneren: Bolschewisten, „Kulturmarxisten“, Sozialisten, Republikaner und Juden hätten es darauf angelegt, mit Indoktrinierung und Propaganda den Schlachtgeist der Deutschen zu schwächen, die Weimarer Republik sei das teuflische und undeutsche Ergebnis des ganzen Unternehmens. Der Nationalsozialismus wurde als Gegenwehr gegen diese angebliche Zersetzung in Stellung gebracht.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden sich in vielen Ländern weltweit die Menschen mit den konkurrierenden Ideen von Kapitalismus und Kommunismus, von Internationalismus, Antikolonialismus, alter und neuer Herrschaft und Befreiung konfrontiert, in vielen Gesellschaften gab es heftige Umbrüche, Kämpfe und Revolutionen. Diese Situation großer Unsicherheit, die auch ökonomische Krisen und brutale bewaffnete Konflikte beinhaltete, war nachvollziehbarerweise irritierend und verwirrend. Der regressive Umgang konnte eine ganz einfache Erklärung liefern: hinter den widersprüchlichen und verfeindeten Ideologien und politischen Lagern steckten die Juden! Sie, deren einziges Ziel schließlich die Schwächung der „echten“ Völker war, versuchten so, Staaten und Blutsgemeinschaften zu schwächen und vom Weg zur nationalen Erlösung abzubringen.
Auch heute werden (jüdische) geheime Mächte hinter den widersprüchlichsten Ideen oder politischen Kräften ausgemacht, beispielsweise auch hinter dem Covid19-Virus und den Impfstoffen und -maßnahmen dagegen.
Die Unterwanderung, Störung und Zersetzung von Ordnungskategorien und Grenze, die alle anderen akzeptieren (müssen), wird Juden und Jüdinnen zugeschrieben und direkt übelgenommen. Sie werden beschuldigt, absichtlich Unordnung, Chaos und Unübersichtlichkeit anzurichten, um davon zu profitieren. Gesellschaftliche Entwicklungen sollen also auch in diesem Verschwörungsmythos personifiziert und so bekämpft werden.